Vor paar Tagen haben ich mir wieder die Frage gestellt, seit wann eigentlich immer wieder und wieder dieselben Debatten um die sogenannte Identitätspolitik wiederholt werden. Ich habe keine Antwort darauf gefunden. Zumindest seit ich politisch aktiv bin, also seit 12 Jahren, kenne ich diese. Damals u.a. in Form von Paprikasoße und Schokoküssen.
Dank Gesine Schwan und Wolfang Thierse wurde die nächste Runde eingeläutet und laut Deutschlandfunk wird diese Debatte noch heftiger, noch unversöhnlicher und noch keine Ahnung was geführt. Was ist passiert?
Gesine Schwan hat im Namen des SPD-Kulturforums eine FAZ-Journalistin eingeladen, die sich in einer Kolumne über Schauspieler:innen, die LGBTIQ sind, verächtlich und lustig macht und wundert sich dann, dass sie heftige Kritik dafür abbekommt, dass sie diese eingeladen hat.
Wen genau Wolfgang Thierse in seinem Text meint, kann ich nicht sagen, da seine Kritik dafür zu anekdotisch begründet ist, aber ich bezeichne sie mal der Einfachkeit halber als Aktivist:innen. Diese vergleicht Thierse in seinem Text mit Diktatoren und religiösen Fanatiker:innen. Außerdem sei Blackfacing nicht rassistisch, sondern ein Zeichen für Neugier auf andere Kulturen. Auch Thierse ist überrascht, dass er kritisiert wird, sieht sich aber bestätigt, weil er Mails von Genoss:innen bekommen hat.
Keine Ahnung, ob beiden bewusst ist, dass sie mit ihren Texten und ihrem Handeln den Respekt-Wahlkampf von Olaf Scholz konterkarieren, aber das scheint wohl niemanden zu stören. Kritisiert wird Saskia Esken, weil sie sich beim LSVD entschuldigt hat, nachdem dieser wegen Gesine Schwan dem Parteivorstand einen offenen Brief geschrieben hat. Die Parteiinterne Kritik war letztendes so groß, dass sie wiederum gezwungen war zurückzurudern, um zu verhindern, dass Thierse in der konservativen Presse seinen Parteiaustritt inszeniert.
Für einige Genoss:innen ist der Entschuldigungsbrief von Saskia und Kevin wieder einmal ein Beweis dafür, dass die SPD sich von ihren Wähler:innen entfernt hat, sich nicht mehr um den Arbeiter kümmere und nur noch Identitätspolitik betreibe. Wie immer wird diese These nicht belegt, vermutlich auch weil es keine Belege dafür gibt. Völlig losgelöst von der Frage, ob man die GroKo gut oder schlecht findet oder das erzielte nicht für ausreichend genug hält (dass ich beide Male gegen die GroKo gestimmt habe ist glaube ich hinreichend bekannt ), kann ich nicht erkennen inwiefern man zu viel Identitätspolitik betreibt. Vom Mindestlohn, der immer noch zu niedirg ist, haben selbstverständlich arme Menschen materiell profitiert. Von der Grundrente (die ich auch nicht für hoch genug halte) profitieren vor allem Frauen und Menschen in Ostdeutschland mit geringen Rentenansprüchen. Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz stärkte nicht nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, er sorgte auch dafür, dass Verdis Position im Tarifkonflikt im Erziehungsbereich gestärkt wurde und damit bessere Tarifabschlüsse erzielt werden konnten, usw. Klingt für mich nicht nach Identitätspolitik.
Genoss:innen, ich weiß ja nicht welche Erahrungen ihr am Infostand während des Wahlkampfs macht. Wenn Leute mir sagen, dass sie nicht mehr SPD wählen, dann sagen die nicht: Ich wähle nicht mehr SPD, weil ihr mir das Gendersternchen aufzwingen wollt. Sie sagen: Ich wähle euch nicht mehr, wegen HartzIV, Riesterrente, der Rente mit 67, Kosovo, Afghanistan, usw. Deswegen erschließt sich mir auch der Mehrwert an Thierses Text und Schwans späteren Aussagen im DLF zur Kritik nicht. Zumal wie oben gesagt die Thesen nicht neu sind und im Prinzip das reproduzieren, was z.B. Nils Heisterhagen schon vor 5 Jahren gesagt hat.
Ihre Argumenationsweise halte ich nicht mal für sozialdemokratisch, bestenfalls für liberal. Worte wie Solidarität oder sozioökonomische Benachteiligung bleiben bei beiden leere Worthülsen, da sie diese nicht ausführen. Aus einer sozialdemokratischen Perspektive hätten sie _zum Beispiel_ erkennen können, dass die Anzahl der lohnabhängig Beschäftigten nicht nur immer größer wird, sondern dass der Anteil an Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte daran immer größer wird. Prekäre Beschäftigung und schlechtere Bezahlung nimmt seit Jahrzehnten immer mehr zu. Selbstverständlich trifft das auch Männer und Menschen ohne Migrationsgeschichte, aber besonders betroffen davon sind Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte. In der Pflege, im Einzelhandel, bei der Paketzustellung, bei Amazon usw., arbeiten insbesondere Frauen oder Menschen mit Migrationsgeschichte. Nicht gut bezahlt und unter schlechten Arbeitsbedingungen. In der Fleischproduktion und in der Landwirtschaft werden Rumän:innen und Bulgar:innen nicht nur massivst schlecht bezahlt. Immer wieder wird auch aufgedeckt, dass die Bedingungen unter denen sie Arbeiten und Hausen müssen, nicht weit weg von Sklaverei sind.
Auf das und vieles anderes hätten sie eingehen können. Aber sie tun es nicht. Damit ist diese Debatte wie vor 5 Jahren, vor 12 Jahren, vor X Jahren mal wieder für die Tonne. Aber immerhin können jetzt wieder Welt, FAZ, Cicero schreiben wie sehr sich die SPD vom Arbeiter vong Gendersternchen her entfernt hat.